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Medizinprodukte neu geordnet

Deutsche Apotheker Zeitung, 19.01.2023, Seite 48

Dr. Janna K. Schweim

Zum 26. Mai 2021 ist die EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) vollumfänglich in Kraft getreten. Um allerdings volle Wirksamkeit zu entfalten und eine Umstellung des Marktes auf die neuen Anforderungen zu ermöglichen, gelten noch Übergangsfristen. Innerhalb dieser Fristen dürfen Hersteller von Medizinprodukten diese weiter vertreiben und müssen nach dem Ablauf eine Zertifizierung gemäß den Vorgaben der MDR nachweisen. Dieser Beitrag soll sich insbesondere mit dem Teilbereich der sogenannten stofflichen Medizinprodukte beschäftigen und aufzeigen, welche Auswirkungen eine ausbleibende Zertifizierung für Apotheke und Patientenstand haben könnte.

Stoffliche Medizinprodukte sind laut einer Leitlinie (MEDDEV-Guideline, Version 2.1/3 rev. 3) solche „Medizinprodukte, die aus Stoffen oder einer Kombination von Stoffen bestehen. Sie ähneln zwar in ihrer Aufmachung und Darreichungsform den Arzneimitteln, erreichen aber ihre bestimmungsgemäße Hauptwirkung über einen physikochemischen und/oder physikalischen Wirkmechanismus. Arzneimittel hingegen verfügen über einen pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkmechanismus.“

Zu den stofflichen Medizinprodukten gehören z. B.:

– salzhaltige Nasentropfen oder -sprays

– schleimhautbefeuchtende Sirupe, Rachensprays oder Lutschtabletten,

– künstliche Tränenflüssigkeiten

– Vaginalcremes oder -gele zur Wiederherstellung des physiologischen Milieus

– Hautcremes oder -salben zur Befeuchtung/Abdichtung von Wunden, Narben oder bei Hauterkrankungen

– orale Mittel zur Neutralisierung von Magensäure

– osmotisch wirksame Abführmittel

– Produkte mit entschäumender Wirkung bei gasbedingten Magen-Darm-Beschwerden.

Unter der Vorgängerregelung der Medical Device Directive (MDD) galten viele der am Markt befindlichen stofflichen Medizinprodukte nach den Klassifizierungsregeln des Anhangs IX aufgrund einer vorübergehenden Anwendung und fehlenden Invasivität als solche mit niedrigem Risikoprofil. Diese Medizinprodukte der Klasse I konnten von den Herstellern selbst zertifiziert werden. Allerdings gab es auch unter der MDD Sonderregeln, z. B. Regel 15, wonach alle Produkte, die speziell zum Desinfizieren, Reinigen, Abspülen oder gegebenenfalls Hydratisieren von Kontaktlinsen bestimmt waren, automatisch der Klasse IIb zugeordnet wurden.

In Körperöffnungen oder auf die Haut

Mit der neu eingeführten Klassifizierungsregel 21 gemäß der Medical Device Regulation (MDR) werden nun alle Medizinprodukte, die „durch eine Körperöffnung in den menschlichen Körper eingeführt oder auf die Haut aufgetragen“ werden und die „vom Körper aufgenommen oder lokal im Körper verteilt“ werden, folgenden Klassen zu­geordnet:

– der Klasse III, wenn sie oder ihre Metaboliten systemisch vom menschlichen Körper aufgenommen werden, um ihre Zweckbestimmung zu erfüllen,

– der Klasse III, wenn sie ihre Zweckbestimmung im Magen oder im unteren Magen-Darm-Trakt erfüllen und wenn sie oder ihre Metaboliten systemisch vom menschlichen Körper aufgenommen werden,

– der Klasse IIb in allen anderen Fällen, es sei denn, sie werden auf die Haut aufgetragen. In diesem Fall werden sie der Klasse IIa zugeordnet oder

– der Klasse IIa, wenn sie in der Nasenhöhle oder der Mundhöhle bis zum Rachen angewandt werden und ihre Zweckbestimmung in diesen Höhlen erfüllen.

Die Risikoklasse I kommt somit für stoffliche Medizinprodukte grundsätzlich nicht mehr infrage, und auch für viele andere Produkte bedeutet die neue Regel 21 eine Höherklassifizierung in eine andere Risikoklasse.

Diese beispielhafte Auflistung zeigt stoffliche Medizinprodukte mit deren bisheriger und künftiger Risikoklassifizierung, die entsprechend oft in einer Einstufung in eine höhere Risikoklasse als zuvor mündet.

Zertifikat Benannter Stellen verliert Gültigkeit

Die MDR erfordert gemäß der in Artikel 120 niedergelegten Übergangsbestimmungen zudem, dass für Medizinpro­dukte, die gemäß der MDD Produkte der Klasse I waren (wie z. B. Lutschtabletten, Nasensprays und andere oben genannte Produkte), erstmalig die Mitwirkung einer Benannten Stelle erforderlich ist. Eine Benannte Stelle ist eine Stelle, die für die Konformitätsbewertung von Medizinprodukten zuständig ist. Das anzuwendende Verfahren umfasst neben den produktbezogenen Nachweisen zur Erfüllung der grundlegenden Anforderungen (klinische Bewertung und Zertifizierung) auch die gemäß der Internationalen Organisa­tion für Normung (ISO) 13485 (Qualitätsmanagement für Medizinprodukte) zu implementierenden Prozesse. Insbesondere stoffliche Medizinprodukte der Klassen IIb und III müssen nun ein solches Konformitätsbewertungsverfahren (Abschnitt 2, Artikel 52 ff. der MDR) durchlaufen.

Gemäß Artikel 120 Absatz 2 MDR behalten Bescheinigungen für Medizinprodukte, die von Benannten Stellen nach dem 25. Mai 2017 gemäß MDD ausgestellt worden sind, ihre Gültigkeit bis zum Ende des darin angegebenen Zeitraums, der fünf Jahre ab der Ausstellung nicht überschreiten darf. Diese Zertifikate verlieren jedoch spätestens am 27. Mai 2024 ihre Gültigkeit. Diese Regelung gilt nicht für stoffliche Medizinprodukte, die schon während der Anwendung der MDD nicht von einer offiziellen Benannten Stelle zertifiziert worden sind. Allerdings können alle Medizinprodukte, die vor dem 26. Mai 2020 gemäß Richtlinie 93/42/ Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden – das heißt auch selbstzertifizierte stoffliche Medizinprodukte – gemäß Artikel 120 Absatz 4 längstens noch bis zum 26. Mai 2024 weiter auf dem Markt bereitgestellt oder in Betrieb genommen werden. Vor Ablauf dieser Frist muss auch für diese Produkte ein Konformitätsnachweis gemäß MDR, in der Regel mittels Durchführung einer klinischen Prüfung, geführt werden. Derzeit hat es allerdings den Anschein, als könnten sowohl Hersteller von Medizinprodukten als auch Patienten und Patientinnen aufatmen: Laut einer aktuellen Beschlussvorlage der EU-Kommission ist geplant, die bisher vorgesehenen Fristen zu verlängern und mehr Zeit für die Rezertifizierung der Medizinprodukte einzuräumen. So sollen auch Engpässen vermieden werden. Für Produkte mit höherem Risiko (Klasse III) verlängert sich die Frist voraussichtlich bis Ende 2027 und für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko (Klassen IIb, IIa und I) bis Ende 2028. Diese Fristen gelten auch für stoffliche Medizinprodukte der jeweiligen Klassen.

Neu: Äquivalenznachweis

Wenn stoffliche Medizinprodukte arzneilich wirksame Stoffe enthalten, die die bestimmungsgemäße Hauptwirkung unterstützen, werden sie nach Regel 14 MDR automatisch der Klasse III zugeordnet. Für diese Produkte sind, wie für alle anderen stofflichen Medizinprodukte der Klasse III, eigene klinische Prüfungen obligatorisch. Klinische Prüfungen sind mit erheblichem Zeit- und Ressourcenaufwand verbunden und stellen vor allem für kleinere oder mittelständische Unternehmen große Herausforderungen dar. Laut MDR kann eine rein auf Literatur gestützte klinische Bewertung jedoch nur durchgeführt werden, wenn eine ausreichende Äquivalenz mit einem Referenzprodukt vorliegt. Der Nachweis der Äquivalenz ist sowohl mit der Richtlinie MEDDEV 2.7/1 rev. 4 als auch mit der MDR gegenüber den Vorgaben der MDD deutlich verschärft worden. Laut Teil A der MDR werden zum Nachweis der Äquivalenz folgende Merkmale herangezogen:

– Klinische Äquivalenz:

– Das Produkt wird unter der gleichen klinischen Bedingung oder zum gleichen klinischen Zweck (einschließlich eines ähnlichen Schweregrads und Stadiums der Krankheit),

– an der gleichen Körperstelle und bei ähnlichen Patienten­populationen angewandt,

– hat die gleichen Anwender und

– erbringt eine ähnliche, maßgebliche und entscheidende Leistung im Hinblick auf die erwartete klinische Wirkung für eine spezielle Zweckbestimmung.

– Technische Äquivalenz:

– Das Produkt ist von ähnlicher Bauart,

– wird unter ähnlichen Anwendungsbedingungen angewandt,

– hat ähnliche Spezifikationen und Eigenschaften,

– verwendet ähnliche Entwicklungsmethoden und

– hat ähnliche Funktionsgrundsätze und entscheidende Leistungsanforderungen.

– Biologische Äquivalenz:

– Das Produkt verwendet die gleichen Materialien oder Stoffe im Kontakt mit den gleichen menschlichen Geweben oder Körperflüssigkeiten

– für eine ähnliche Art und Dauer des Kontakts

– bei ähnlichem Abgabeverhalten der Stoffe.

Ohne diesen Äquivalenznachweis muss ein klinisches Bewertungsverfahren gemäß Art. 62 Abs. 1 MDR durchgeführt werden, das den folgenden Zwecken dient:

– die Eignung des Produkts für den bestimmten Zweck zu überprüfen,

– den klinischen Nutzen zu überprüfen und

– die klinische Sicherheit und Nebenwirkungen des Produkts zu prüfen.

Eine solche klinische Prüfung können Medizinprodukte-Hersteller als erforderlichen Nachweis im Konformitätsbewertungsverfahren nutzen. Sie müssen die Anforderungen aus den Artikeln 62 bis 81 sowie des Anhangs XV der MDR erfüllen. Nur wenn dieser Schritt auch für die bislang am Markt verfügbaren stofflichen Medizinprodukte rechtzeitig erfolgt, werden diese auch noch nach dem 26. Mai 2024 (bzw. nach Ablauf der voraussichtlich verlängerten Fristen) in der Apotheke für die Patienten und Patientinnen verfügbar sein. Je früher die entsprechenden klinischen Prüfungen durchgeführt werden, desto besser, denn aktuell könnten befürchtete Kapazitätsengpässe bei den für die Zertifizierung der Produkte zuständigen Benannten Stellen zu einer Verzögerung der Verfahren sowie zu einer vorübergehenden Unterversorgung mit solchen Medizinprodukten führen. Aus diesem Grund hat die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte unter dem Vorsitz der EU-Kommission eine Liste von Maßnahmen gebilligt, die die mit Problemen behaftete Umsetzung der MDR einfacher machen und die Verfügbarkeit von Medizinprodukten sicherstellen soll [6].

Rechercheoption für Apotheker wünschenswert

Bestimmte Medizinprodukte, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf Antrag als verordnungsfähig eingestuft werden, sind in der Anlage V der Arzneimittel-Richtlinie des G-BA (Stand: 25.10.2022) gelistet. Dazu gehören z. B. bestimmte Spül- und Inhalationslösungen, Mittel zur Behandlung des Kopflausbefalls und synthetischer Speichel. Die Liste gibt auch Aufschluss über die Befristung der Verordnungsfähigkeit und kann somit als eine Quelle für die Verfügbarkeit der stofflichen Medizinprodukte dienen. Als weitere Informationsquelle für Apothekerinnen und Apotheker könnte der öffentliche Teil der Medizinprodukte-Datenbank (Medizinprodukte-Informationssystem, DMIDS) infrage kommen: Allerdings sind Zugänge zum System bislang nur für Anzeigepflichtige, Antragsteller/Sponsoren, zuständige Behörden, Ethik-Kommissionen und Benannte Stellen unter anderem für Recherchen in Faktendatenbanken z. B. nach Medizinprodukte-Anzeigen (MPA) vorgesehen [8]. Mit Blick auf die drohende Knappheit verfügbarer Medizinprodukte wäre eine entsprechende Recherchemöglichkeit für Apotheker und Apothekerinnen bezüglich des Konformitätsstatus sehr wünschenswert. Diese Rolle wird mit voller Funktionsfähigkeit, welche voraussichtlich im 2. Quartal 2024 erreicht sein soll, zukünftig hoffentlich die European Database on Medical Devices (EUDAMED) mit der Rechercheoption nach gültigen Zertifikaten für Medizinprodukte erfüllen. Im Sinne der Transparenzstrategie der Europäischen Kommission sollte dieser Datenbestand sowohl den Fachkreisen wie auch der Öffentlichkeit, das heißt Patienten und Patientinnen, zur Verfügung gestellt werden. 

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